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Erstmalig Gentherapie gegen drohende Erblindung eingesetzt

Noch bis vor wenigen Jahren galt die erblich bedingte Netzhauterkrankung Lebersche kongenitale Amaurose (LAC) als unheilbar. Die Erkrankung tritt bereits im Kleinkindalter in unterschiedlichen Schweregraden auf und kann unbehandelt zur Erblindung führen. Ursache ist eine Genmutation. Seit 2018 ist das gentherapeutische Medikament Luxturna® (voretigene neparvovec) in der EU zugelassen. In der Gießener Augenklinik wurde es nun erstmals in Hessen erfolgreich verabreicht.
Erstmalig Gentherapie gegen drohende Erblindung eingesetzt

Vorbereitung von "Luxturna" für die subretinale Injektion. Foto: RHÖN-KLINIKUM AG/UKGM

24.05.2024

"Unsere fünfjährige Patientin hat den Eingriff am ersten Auge gut und ohne Komplikationen überstanden. In wenigen Monaten werden wir auch das zweite Auge mit dem Gentherapeutikum behandeln. Wir freuen uns, dass dieser erste Eingriff erfolgreich verlaufen ist", sagt PD Dr. Lyubomyr Lytvynchuk, kommissarischer Direktor der Augenklinik am UKGM in Gießen, der den Eingriff als Chirurg mit seinem Team selbst durchgeführt hat. PD Dr. Lytvynchuk ist ein europaweit ausgewiesener Experte für die Besonderheiten der Augenchirurgie bei Kindern.

Was kennzeichnet die Erkrankung?

Bei der Leberschen kongenitale Amaurose (LAC) handelt es sich um eine seltene angeborene Netzhauterkrankung, die durch Mutationen (Veränderungen) im sogenannten RPE65-Gen verursacht wird. Dadurch ist der Körper nicht in der Lage, ein Protein zu bilden, das für die Sehkraft erforderlich ist. Betroffen sind vor allem die lichtempfindlichen Zellen der Netzhaut, die ohne das Protein die Lichtreize von außen nicht mehr für das Sehen verarbeiten können und irgendwann absterben. Dadurch kann es zur Erblindung kommen. Die Erkrankung kann in unterschiedlichen Schwergraden auftreten. Sie reichen von schweren Beeinträchtigungen im Kleinkindalter bis zu zunächst milden Formen, die erst im Teenager - oder jungen Erwachsenenalter als Beeinträchtigung wahrgenommen werden. Typisches Kennzeichen ist aber immer eine sehr frühe und deutlich ausgeprägte Nachtblindheit. "Unsere erste Patientin hatte bereits ein stark eingeschränktes Sehvermögen und eine Schielstellung auf einem Auge. Mit einer molekulargenetischen Diagnostik konnten wir den Gendefekt eindeutig nachweisen als wichtige Voraussetzung für diesen Eingriff", erklärt PD Dr. Lytvynchuk.

Wie funktioniert der Eingriff?

Die Anwendung von Luxturna® ist nur möglich, wenn die Klinik über ein Sicherheitslabor der Stufe 2 (für Arbeiten mit gentechnisch veränderten Zellen) verfügt, in dem das tiefgefrorene Medikament von geschultem Fachpersonal zunächst aufgetaut und dann in Spritzen aufgezogen wird. Innerhalb eines festgelegten Zeitfensters werden die Spritzen dann unter sterilen Bedingungen in den OP gebracht. Für den Eingriff müssen zwei zertifizierte Operateure im Einsatz sein. Bei der Operation unter Vollnarkose wird das Medikament nach Entfernung des Glaskörpers unter die Netzhaut im hinteren Teil des Auges gespritzt. Gerade bei Kindern verlangt der Eingriff viel Erfahrung und eine hohe Expertise, erklärt der Chirurg PD Dr. Lytvynchuk: "Bei Kindern sind die Augen nicht nur kleiner, auch die Verhältnisse zwischen den anatomischen Strukturen sind anders. Wir arbeiten hier mit einem modernen Operationsmikroskop, das verbindet ein 3D Heads-Up System mit Tiefenschärfe in 4K-Auflösung und intraoperative optische Kohärenztomographie für höchste chirurgische Präzision."

Wie wirkt das Medikament?

Der Wirkstoff von Luxturna® besteht aus einem veränderten Virus, das, sozusagen als Transportdienst eine voll funktionsfähige Version des betroffenen RPE65-Gens enthält. Nach der Injektion transportiert das für den Patienten unschädliche Virus das gesunde Gen in die lichtempfindlichen Zellen der Netzhaut. Die können nun das Eiweiß bilden, das für die Verarbeitung der Lichtreize erforderlich ist. Da das neue Gen möglicherweise vom Immunsystem als Fremdkörper wahrgenommen und abgestoßen werden könnte, nehmen die Patienten vor dem Eingriff ein Medikament ein, dass diese natürlichen Abwehrkräfte des Körpers unterdrückt, damit das Gentherapeutikum gut angenommen wird. "In Kooperation mit der Kinderklinik wurde unsere kleine Patientin dort drei Tage zuvor aufgenommen und auf den Eingriff vorbereitet. Das hat gut funktioniert. Nach dem Eingriff haben wir keine Abwehrreaktionen gegen das Gentherapeutikum gesehen", so PD Dr. Lytvynchuk.

Welche Patienten kommen für die Therapie in Frage?

Voraussetzung ist, dass bei den Betroffenen die entsprechende Genmutation eindeutig nachgewiesen und durch eine molekulargenetische Diagnostik im Blut festgestellt wird. Ist die Diagnose klar, folgen eingehende Untersuchungen der Netzhaut und der Sehfunktionen unter verschiedenen Beleuchtungsbedingungen. An der Gießener Augenklinik gibt es hierfür einen eigens angelegten Parcours, der von Patienten unter verschiedenen Beleuchtungsstärken abgelaufen wird. So lassen sich sowohl Verschlechterungen als auch Verbesserungen bei der Lichtverarbeitung der Augen objektiv messen.

Die Lebersche kongenitale Amaurose gehört zu den seltenen erblich bedingten Netzhauterkrankungen von der ca. 1 von 100.000 Menschen betroffen sind. Die Kosten für die Behandlung sind hoch und belaufen sich auf rund 800.000 Euro für beide Augen. Sie werden von den Krankenkassen übernommen.

In Deutschland gibt es insgesamt nur vier Zentren, Tübingen, München, Bonn und Gießen, die diese Therapie bislang anbieten. In Gießen besteht für diese Patienten eine umfangreiche Expertise da bereits seit über 20 Jahren zu dieser Patientengruppe geforscht wird. Seit 10 Jahren gibt es ein Hauptforschungsfeld in der Erforschung der Ursachen und der Beschreibung des Verlaufes dieser erblichen Netzhauterkrankung. Die ehemalige Direktorin der Klinik, Prof. Dr. Birgit Lorenz, und der Leiter des Labors für Molekulare Ophthalmologie, PD Dr. Markus Preising, haben zu ihren Forschungsergebnissen einige zentrale Erkenntnisse über die Identifikation und den Verlauf der Erkrankung veröffentlicht. An der Entwicklung der gentherapeutischen Behandlung für Patienten mit RPE65 Mutationen hat der Leiter der Arbeitsgruppe experimentelle Ophthalmologie, Prof. Dr. Dr. Knut Stieger bereits vor rund 15 Jahren mitgearbeitet. Seitdem wurden die Forschungsaktivitäten an der Augenklinik in diesem Bereich fortgeführt und ausgebaut. Die Gießener Augenklinik ist zudem Mitglied und Referenzzentrum im Netzwerk für seltene Netzhauterkrankungen, einer Initiative der Europäischen Union.

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